Einleitung von „Der freiheitliche Universitätsbegriff Wilhelm von Humboldts“ (Ingo Hoppe)

(Quelle:  Ingo Hoppe, der Autor)

Einleitung

Das Ende der alten Universitätsfreiheit

 

Zu den bedeutendsten Errungenschaften der abendländischen Kulturentwicklung gehört die sogenannte alte Studierfreiheit. Fussend auf der griechischen Gesprächskultur des klassischen Altertums von Philosophen wie Sokrates und Platon entwickelte sie sich als ein Ergebnis der frühneuzeitlichen Befreiungsbewegung. Diese begann mit dem „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“(Kant), dem Wahlspruch der Aufklärung, in der sich führende Gelehrte und Künstler von den autoritativen Dogmen einer kirchlich bevormundeten Wissenschaft emanzipierten. Die so beginnende Selbstbefreiung des individuellen Menschen wurde später während der Kulturepoche des deutschen Idealismus durch freiheitliche Geister wie Friedrich Schiller (1759-1805), Wilhelm von Humboldt (1767 bis 1835) und viele andere weitergeführt. Eine Folge davon war die Gründung der Freien Humboldt-Universität in Berlin. Mit ihr versuchte Humboldt den Befreiungsweg der Wissenschaft, der mit ihrer Loslösung von der Kirche begonnen hatte, durch die Befreiung von staatlicher Bevormundung fortzuführen.

Obwohl der volle Erfolg dieses Versuches bis heute gescheitert ist, entwickelte sich daraus als positiver „Nebeneffekt“ das Modell der „deutschen Universität“. Wegen ihm gehörten die deutschsprachigen Universitäten über 150 Jahre lang zu den freiesten Universitäten der Welt (wenigstens hinsichtlich der Studien- und Forschungsgestaltung in den Geisteswissenschaften).[i]       

Eben dieser Freiheit wurde jedoch in den letzten Jahren (1998-2010) erneut ein Grab geschaufelt. Politische und Ökonomische Neuerungen haben im Zuge des sogenannten Bologna-Prozesses einen Sarg für die Freiheit des Geistes gezimmert. Der Sargdeckel wurde gegen den Willen vieler Professoren mittels neuer Reglementierungen und Bestimmungen zugenagelt. Darinnen liegt geknebelt der freie Geist. Das anhebende Begräbnis, genannt  „Hochschulreform“ ist in vollem Gange. Ein historisches Ereignis: Mittels eines riesigen Mehraufwands an Bürokratie wurde die alte Studierfreiheit in die Gruft der Geschichtsbücher versenkt, wo sie nunmehr ein museales Gewesensein fristen soll. Zu Recht beklagen daher Humboldtforscher wie Dietrich Spitta, „dass in den heutigen so genannten „Universitäten“ eine Spezialisierung und Verschulung stattgefunden hat, in denen fast nichts mehr von Humboldts Universitätsidee zu bemerken ist, die ihn bei der Gründung der Universität Berlin geleitet hat.“[ii]

Dieser Niedergang der Humboldt’schen Universitätsprinzipien bedeutet einen Rückschritt unter ein bereits erreichtes Niveau abendländischer Kultur. Man braucht sich nur klar zu machen, was es zivilisationsgeschichtlich bedeutet, dass hinsichtlich der Studiengestaltung heute weniger Freiheit existiert als früher. Wer Gedankenfreiheit als Menschenrecht und zentrale Errungenschaft der Neuzeit schätzen gelernt hat, erlebt diesen Verlust als Rückkehr in die Steinzeit. Das zeigt sich an vielen Einzelphänomenen; beispielsweise darin, dass die ursprünglich sehr liberalen Voraussetzungen für die Anerkennung von Hochschulen in freier Trägerschaft ([1]) inzwischen durch detaillierte Regelungen ([2]) stark eingeschränkt wurden.[iii]

Wer individuelle Vielfalt liebt, müsste mit Sorge auf jene „Gemeinsame Erklärung“ blicken,  die europäische Bildungsminister am 19. Juni 1999 in Bologna – von der Öffentlichkeit kaum bemerkt – verabschiedeten (Bologna-Erklärung). Denn sie läuft auf eine massive vormundschaftliche Gleichschaltung des Universitätswesens hinaus, die uns nicht nur vor den deutschen Idealismus, sondern gewissermassen sogar vor die Aufklärung zurückkatalputiert. Das Wesen der letzteren bestand bekanntlich in dem Ausgang des Menschen aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Seit Bologna scheint es, dass wir den Eingang in sie wieder gefunden haben. „Selbst verschulden“ tut dies jeder, der sich dem Vormund der Bildungsminister blind unterwirft.

Viele Professoren und Studenten haben sich dafür eingesetzt, den Bologna-Prozess zu stoppen – bisher vergeblich: Er wurde politisch und bürokratisch durchgedrückt und führte zu einer ganz erheblichen Umgestaltung der europäischen Universitäten. Statt einer nachhaltigen Deregulierung hatte er eine weitere staatliche Reglementierung und Verschulung des Hochschulwesens zur Folge.[iv] Er läuft in mehrfacher Hinsicht auf unsoziale Selektionsmechanismen und die Unterdrückung des freien Denkens hinaus, was die massenhaften Studentenproteste ausgelöst hat, die insbesondere 2009 das Universitätsleben Europas erschütterten.

Die Studentenproteste atmen letztlich den gleichen europäischen Geist, den Humboldt vor 150 Jahren atmete. Im Sinne seiner Ideen, die „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ zu bestimmen, wiesen Freigeister ähnlicher Ausrichtung wie Max Stirner (1806-1856)[v], Rudolf Steiner (1861-1925)[vi] oder Joseph Beuys (1921-1986)[vii] immer wieder darauf hin, dass derartige Strukturen in ihren Anfängen überall da installiert werden, wo


[1] Gemäss § 128 des seinerzeitigen baden-württembergischen Universitätsgesetzes in Deutschland.

[2] Gemäss den §§ 70 ff. des Hochschulgesetzes.


Staat oder Wirtschaft das Recht auf Bevormundung des Geistes- und Bildungslebens beanspruchen. Dies geschieht seit Bologna verstärkt.

Dass die Freiheit des Geistes von der Wissenschaft selbst gefordert wird, ist eine zentrale These Humboldts. Seine universitätsphilosophischen Ausführungen legen dar, dass die Befreiung des Geistes vom Vormund des Staats eine aus der wissenschaftlichen (bzw. künstlerischen) Arbeit selbst sich ergebende Forderung ist. Wissenschaft braucht Freiheit um ihrer selbst willen. Jeder Mensch ist zur freien, schöpferischen Entfaltung seines kreativen Potentials berufen – und will sich dabei nicht durch „vergleichbare Studiengänge europäischer Bildungsminister“ stören lassen. Der kreative Mensch entfaltet seinen individuellen Studiengang und Forschungsweg aus sich heraus – in freiem Vertrag mit anderen. Dabei folgt er einzig dem Gesetz, das „mit ihm geboren ist“, dem ersten Urheber aller Gesetze, dem schöpferischen – Geist.[i]

*

Wegen der aktuellen Debatte ist zu ergänzen, dass Humboldts Kritik sich zwar hauptsächlich auf den Staat bezieht, letztlich aber auch auf wirtschaftliche Bevormundung anwendbar ist. Die Studentenproteste richten sich vor allem gegen die industrielle Bevormundung des Bildungswesens, zu deren Handlanger sich der Staat herabwürdigen liess. Es sind in Wahrheit aber zwei Seiten, von denen der freie Geist eingekreist und bedrängt wird: von Ökonomie und Staat – ein zweifaches Unterdrückungssystem, dem die Zivilgesellschaft das geistige Selbstbestimmungsrecht des freien Menschen als drittes Glied entgegenstellen will.

Humboldts Aussage: „Die Sorgfalt des Staats für das positive Wohl der Bürger ist schädlich. Denn sie – bringt Einförmigkeit hervor;“[ii] entbindet den Staat nicht von seiner Verantwortung rechtliche Chancengleichheit im Bildungswesen zu garantieren – eine auch im Sinne Humboldts berechtigte Forderung. Sie richtet sich vielmehr gegen die inhaltliche und formale Gleichmacherei gleichgeschalteter Studiengänge (Verschulung), wogegen heute Professoren und Studenten mit Recht revoltieren.

[i] Dass sie dennoch viele reformbedürftige Mängel (z.B. ein durchaus unfruchtbares Chaos) aufwiesen, wird hier nicht übersehen. Aber was waren die Ursachen dieser Mängel? Im Sinne Humboldts müsste man antworten: weil auch vor Bologna niemals volle Freiheit gewährt wurde: Die – jetzt noch mehr zunehmende – staatliche Bevormundung war schon immer allgegenwärtig und hemmte als solche die sinnvoll geordnete Ausgestaltung des universitären Lebens schon immer. Es müsste begriffen werden, dass Chaos gerade die Folge von Reglementierung sein kann. Der staatliche Ordnungswille bewirkt auf geistigem Feld gerade das Gegenteil von Ordnung. Helmut Schelsky hat dargelegt, dass der Lehrbetrieb an Universitäten auch vor Bologna schon gegen die Grundsätze Humboldts gerichtet war. Seine Mängel sind also nicht als Argumente gegen Humboldt akzeptabel.

[ii] Dietrich Spitta, Menschenbildung und Staat, Das Bildungsideal Wilhelm von Humboldts angesichts der Kritik des Humanismus,  2006 Stuttgart, S.12.

[iii] Ebenda, S.17.

[iv] Ebenda.

[v] Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1981; Parerga, Kritiken, Repliken, Nürnberg 1986; Kleinere Schriften, Stuttgart 1976; Geschichte der Reaktion, Aalen 1967; Stirner-Dokumente, Berlin 1981.

[vi] Rudolf Steiner, Hochschule und öffentliches Leben, sechs Aufsätze (1898/99), 1970 Dornach (aus GA 31).

[vii] Harlan, Rappmann, Schata, Soziale Plastik, Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1984.

[1] Der bezüglich freiheitlicher Studiengestaltung oft kritisierte Egoismus (“Rosinenpicken“) ist in Wirklichkeit das wirksamste Mittel zu seiner Überwindung. Denn ein gewisser Egoismus ist auf geistigem Gebiet berechtigt, ja notwendig und wird gerade dann, wenn er sich hier frei entfalten kann, nicht dazu übergehen, auf anderen Gebieten sein Unwesen zu treiben. Die gefährlichen Auswüchse des Egoismus liegen in seiner Entfaltung auf wirtschaftlichem und politischem Feld. Wird die freie Entfaltung des Ich auf geistigem Gebiet unterdrückt, sucht es sich andere Wege – der Egoismus wird in wirtschaftliche und politische Bereiche abgedrängt. Das Ich kann heute nicht mehr unterdrückt werden. Versucht man es dennoch, erzeugt man Amokläufer. Die Ermöglichung freier Entfaltung auf geistigem Gebiet ist daher das wirksamste Mittel zur Vermeidung der gefährlichen Auswüchse des Egoismus in Wirtschaft und Politik.

[1] Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen,1962 Stuttgart, S.5.

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